Postfaktisch

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Postfaktisch

Als das Wort „Postmoderne“ aufkam, meinte ein Witzbold, eine moderne Post sei ihm lieber. Mit den postfaktischen Zeiten, die derzeit beklagt werden, kann man solch ein Wortspiel nicht veranstalten, doch bevor man sich von dem immer unerträglicher werdenden Geschwätz eines ahnungslosen Präsidenten ohne Gefühl für seine Verantwortung abwendet, der die NATO erst als überholt bezeichnet und dann zugibt, gar nicht gewußt zu haben, wozu sie da ist, empfehle ich einen Blick auf die Wissenschaft, die doch als Hüter der Wahrheit gilt.
Es ist natürlich keine Frage, daß im Hause der Wissenschaft die Lüge verpönt ist, aber zum einen kann niemand das in den dortigen heiligen Hallen praktizierte Vergnügen am Betrügen übersehen. Und zum zweiten ist es der Wissenschaft vor allem darum gegangen, „die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern“, wie Galileo Galilei einstmals gemeint hat, um die Wahrheit gerne den Kirchenvertretern zu überlassen - wahrscheinlich auch deshalb, weil es viel zu viele Daten gab, die es zu verstehen galt.
Noch mehr Daten gab es in den frühen 1950er Jahren, als James Watson und Francis Crick versuchten, die Struktur des Stoffes zu ermitteln, aus dem die Gene bestehen. Und so weigerten sie sich eines Tages, weitere Meßergebnisse zur Kenntnis zu nehmen „No more facts!“ -, um endlich Zeit zu finden, Ideen zu entwickeln. Dabei ist die berühmte Doppelhelix aus DNA entstanden, die demnach ein postfaktisches Geschöpf, ein Produkt menschlicher Phantasie ist. Das gilt für alle großen Theorien der Wissenschaft, wie Albert Einstein gewußt hat: Die Gesetze der Naturwissenschaften sind „freie Erfindungen des menschlichen Geistes“, wie in seinem Buch „Mein Weltbild“ nachzulesen ist. Es handelt sich dabei keinesfalls um Entdeckungen.
Was Forscher der Öffentlichkeit anbieten, wenn sie ihre Einsichten und Kenntnisse erläutern, kann nur postfaktisch sein, wobei das Wissen auch danach bewertet wird, ob es in dem Weltbild seinen Platz findet, mit dessen Hilfe man das sieht, was sich den Augen nicht zeigt. Die großartige Kultur der Wissenschaft ist kein Produkt von Fakten, sondern -im Gegenteil- ein Kind der Phantasie. Es fällt auf, daß die Politik und die Medien bei ihrer Kreativität kaum mithalten können.
 

© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.